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VERLAG: Schott

Brief von Arnold Schönberg an Paul Dessau, 22. November 1941

Lieber Herr Dessau:

Das Kol Nidre habe ich für Rabbi Dr. Jakob Sonderling, 525 S. Fairfax, Los Angeles Cal. geschrieben. Er wird Ihnen sicherlich auch Auskünfte darüber geben können.
Auf meine Veranlassung wurde der Text des "traditionellen" Kol Nidre geändert: aber die Einleitung war eine Idee Dr. Sonderlings.
Als ich zuerst den traditionellen Text sah, war ich entsetzt ueber die "traditionelle" Auffassung, dass am Versöhnungstage alle Verpflichtungen, die man während des Jahres eingegangen hatte, gelöst sein sollten. Ich halte diese Auffassung, da sie wahrhaft unmoralisch ist, für falsch. Sie steht im Widerspruch mit der hohen Sittlichkeit aller jüdischen Gebote.
Ich war vom ersten Moment an überzeugt, (was sich auch später als richtig herausstellte), als ich las, dass das Kol Nidre aus Spanien stammt. Damit war klar, dass es nichts anderes besagte, als dass alle, die freiwillig oder unter Zwang zum Schein den christlichen Glauben angenommen hatten (und die darum aus der jüdischen Gemeinschaft ausgeschlossen sein sollten), an diesem Versöhnungstag sich wieder mit ihrem Gott versöhnen sollten, und alle Gelübde (Gelöbnisse) gelöst sein sollten.
Das bezieht sich also nicht auf kaufmännische Schiebungen.
Die Schwierigkeit, die traditionelle Melodie zu benützen, liegt an zweierlei:
1. gibt es eine solche Melodie eigentlich nicht, sondern nur eine Anzahl von Floskeln, die einander bis zu einem gewissen Grad ähneln, ohne jedoch identisch zu sein, aber nicht immer in derselben Reihenfolge erscheinen.
2. Diese Melodie ist monodisch, beruht nicht auf Harmonie in unserem Sinn und vielleicht nicht einmal auf Mehrstimmigkeit.
Ich habe aus einer Anzahl von Versionen die gemeinsamen Phrasen ausgewählt und in eine vernünftige Reihenfolge gebracht. Eine meiner Hauptaufgaben war, die Cello-Sentimentalität der Bruch, etc. wegzuvitriolisieren und diesem DECRET die Würde eines Gesetzes, eines "Erlasses", zu verleihen. Ich glaube, das ist mir gelungen. Diese Takte 58 bis 63 sind zumindest kein sentimentales Moll.
Ich freue mich sehr, dass Ihnen das Stück gefällt. Ich bin auch sicher, dass Sie vieles von dem sehen, was ich durch motivische Grundlagen für die Gesamtwirkung getan habe. Es ist zu schade, dass Menschen, wie Saminski, das Stück vom rituellen und vom musikalischen Standpunkt aus für den Gebrauch im Tempel ablehnen. Ich glaube, dass es sowohl im Tempel als auch im Konzert von grosser Wirkung sein muss. Ich habe manchmal daran gedacht Rabbi Wise zu fragen, aber ich mag es doch nicht selbst tun.
[...]
Mit besten Grüssen an Sie, Ihr 

Arnold Schönberg