Sehr langsam   

Breiter (T. 100)    

Schwer betont (T. 201)    

Sehr breit und langsam (T. 229)    

Sehr ruhig (T. 370)   

>>> Gedicht

AUFFÜHRUNGSDAUER: ca. 28 Min.

FASSUNGEN:
Fassung für Streichsextett (1899/1905) >>> Quellen
I. Fassung für Streichorchester (1917) >>> Quellen
II. Fassung für Streichorchester (1943) >>> Quellen

VERLAG:
Universal Edition
Belmont Music Publishers (USA, Kanada, Mexico)

Sehr langsam   

Breiter (T. 100)    

Schwer betont (T. 201)    

Sehr breit und langsam (T. 229)    

Sehr ruhig (T. 370)   

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AUFFÜHRUNGSDAUER: ca. 28 Min.

FASSUNGEN:
Fassung für Streichsextett (1899/1905) >>> Quellen
I. Fassung für Streichorchester (1917) >>> Quellen
II. Fassung für Streichorchester (1943) >>> Quellen

VERLAG:
Universal Edition
Belmont Music Publishers (USA, Kanada, Mexico)

Einführung

»Gestern Abend hörte ich die ›Verklärte Nacht‹, und ich würde es als Unterlassungssünde empfinden, wenn ich Ihnen nicht ein Wort des Dankes für ihr wundervolles Sextett sagte. Ich hatte mir vorgenommen, die Motive meines Textes in Ihrer Composition zu verfolgen; aber ich vergaß das bald, so wurde ich von der Musik bezaubert.« (Richard Dehmel an Arnold Schönberg, 12. Dezember 1912) Arnold Schönbergs op. 4 entstand in nur drei Wochen im September 1899 während eines Ferienaufenthalts mit Alexander Zemlinsky und dessen Schwester Mathilde – Schönbergs erster Frau – in Payerbach an der Rax. Die Endfassung des Manuskripts ist mit 1. Dezember 1899 datiert.
Das Sujet jener Programmmusik, die »sich darauf beschränkt, die Natur zu zeichnen und menschliche Gefühle auszudrücken« (Schönberg), ist das Gedicht »Verklärte Nacht« von Richard Dehmel aus der 1896 veröffentlichten Sammlung »Weib und Welt«. Dehmel galt vor dem Ersten Weltkrieg als einer der berühmtesten deutschen Lyriker, dessen Hauptwerk »Zwei Menschen. Roman in Romanzen« (1903) Erotik und Sexualität im Kontext stilistischer Vorstellungen des Jugendstils thematisierte.
Das erste Hauptstück des »Romans« bildet das bereits früher erschienene Gedicht »Verklärte Nacht« (in dieser Ausgabe ohne Titel), welches vom »Pathos einer neuen, unbürgerlichen Geschlechtsmoral [und] der Idee des alles überwindenden, jede Konvention beiseite schiebenden Eros« (Hans Heinz Stuckenschmidt) getragen ist. Die fünf Strophen des Gedichts schildern in inhaltlich klar differenzierten Abschnitten: eine Waldszene mit zwei Menschen (Nr. 1, 3, 5); die Rede der Frau, die einen Mann liebt, jedoch von einem Anderen ein Kind erwartet und sich selbst anklagt (Nr. 2); die Rede des Mannes, der die Frau tröstet und das Kind des Anderen als sein eigenes annehmen will (Nr. 4). Dehmels Gedicht besaß einen autobiographischen Hintergrund, als es seine Liaison zu Ida Auerbach, der schwangeren Ehefrau des Konsuls Auerbach, thematisierte. Die Tochter aus großbürgerlicher jüdischer Familie spielte in der Beziehung Stefan George – Richard Dehmel – Arnold Schönberg eine wichtige Rolle: George verarbeitete seine unausgesprochene Liebe zu ihr in dem autobiographisch stilisierten »Buch der hängenden Gärten«, aus dem Arnold Schönberg später fünfzehn Gedichte als op. 15 vertonen sollte.
Das Genre Programmmusik scheint Schönberg im Jahr vor der Entstehung seines vierten Opus intensiv beschäftigt zu haben, worauf die fragmentarisch gebliebenen Kompositionen »Hans im Glück«, »Frühlings Tod« und »Toter Winkel« (letzteres ebenfalls ein Streichsextett) hinweisen. Seine beginnende Beziehung zu Mathilde Zemlinsky im Jahr 1899 mag für die spezifische Textwahl als Programm zu op. 4 ausschlaggebend gewesen sein.
»Verklärte Nacht« stellt in seiner Gesamtform einen Schnittpunkt zweier Entwicklungslinien in der Musik des ausgehenden 19. Jahrhunderts dar: der Tendenz zur einsätzigen Sonate (Franz Liszts h-Moll-Sonate gilt als historisches Modell) und einsätzigen symphonischen Dichtung. Die Formdisposition in Schönbergs op. 4 folgt weitgehend der literarischen Vorlage, wobei narrative Segmente (Waldszene) und Binnenabschnitte (direkte Reden) dem Rondo angenähert sind. Der erste Teil entfaltet in dichter motivischer Arbeit und epischem Gestus ein Bild der klaren Mondnacht, das im zweiten Teil durch das Bekenntnis einer Tragödie (das erste Thema knüpft in d-Moll am vorangegangenen Abschnitt an) einen »dramatischen Ausbruch« erfährt, wie Schönberg in seinen 1950 veröffentlichten »Programm-Anmerkungen« zur »Verklärten Nacht« darlegt. Deutlich abgesetzt durch eine Fermate erklingt danach das zweite Thema in b-Moll, welches Unglück und Einsamkeit der Frau illustriert. Ein drittes Thema in c-Moll verdeutlicht den Zwang zur Treue; nachdem die Frau »schließlich dem mütterlichen Instinkt gefolgt ist, trägt sie jetzt ein Kind von einem Mann, den sie nicht liebt. Sie hatte ihre Pflichterfüllung gegenüber den Forderungen der Natur sogar für lobenswert gehalten.« Dieser Abschnitt aus Dehmels Gedicht wird durch ein viertes Thema in E-Dur gedeutet, dessen Fortspinnung Figuren aus dem vorher exponierten Material zitiert und zu einer deutlichen Zäsur führt. Es folgt eine kontrastierende, homogene Passage mit neuen klangfarblichen Schattierungen als Überleitung zum dritten Formteil, der das Hauptmotiv des Anfangs wieder aufgreift und im Stil der von Johannes Brahms etablierten Technik der ›entwickelnden Variation‹ weiterformuliert.
Die Rede des Mannes, »dessen Großmut so erhaben ist wie seine Liebe«, moduliert im vierten Teil in den »äußersten Gegensatz D-Dur«. Dämpfer und Flageolettklänge drücken in neuen Klangeffekten die »Schönheit des Mondlichts« aus. Nach Schönberg gibt dieser Abschnitt »die Stimmung eines Mannes wieder, dessen Liebe im Einklang mit dem Schimmer und dem Glanz der Natur fähig ist, die tragische Situation zu leugnen«. Der fünfte Teil erfüllt die Funktion einer Material subsummierenden Coda, die auf dem nach Dur gewendeten Anfangsmotiv (kontrapunktiert durch das Hauptthema des vierten Teils) sowie thematischen Bausteinen des dritten Teils basiert.
Ende 1939 trat der amerikanische Verleger Edwin F. Kalmus mit dem Vorschlag, eine neue Edition der »Verklärten Nacht« herausgeben zu wollen, an Schönberg heran. Dieser war unter der Bedingung einer verbesserten Ausgabe (Änderungen in Dynamik, Strichen, etc.) mit einer Neuauflage in einer Bearbeitung für Orchester einverstanden. Bereits 1917 hatte Schönberg von op. 4 für die Universal Edition eine Fassung für Streichorchester (die erste bekannte Aufführung dieser Fassung fand am 14. März 1918 im Leipziger Gewandhaus statt) mit einer zusätzlichen Kontrabassstimme erstellt, die er jedoch – basierend auf den Erkenntnissen vieler Aufführungen – neu gestalten wollte. Da der Vertrag mit Kalmus nicht zustande kam, trat Schönberg mit Associated Music Publishers in Kontakt. Die Modifikationen in der Bearbeitung für Streichorchester, welche im September 1943 bei AMP in New York erschien, betreffen vor allem Dynamik und Artikulation sowie Tempoangaben. In einem Brief vom 22. Dezember 1942 beschreibt Schönberg die wesentliche Verbesserung gegenüber der Ausgabe von 1917: »Die neue Version [...] wird das Gleichgewicht zwischen ersten und zweiten Violinen einerseits sowie Bratsche und Cello andererseits verbessern und die Balance der Originalfassung für Sextett mit sechs gleichwertigen Instrumenten wiederherstellen.«

Therese Muxeneder | © Arnold Schönberg Center

Ankündigung (1902)

Arnold Schönberg über »Verklärte Nacht«
Deutsche Tonkünstler-Zeitung (21. Oktober 1902)


Arnold Schönberg schreibt über sich und sein Streichquartett [sic] Folgendes: Ich bin am 13. September 1874 in Wien geboren. Da ich ursprünglich Ingenieur werden sollte, kam ich erst ziemlich spät dazu, meiner Neigung nachzugehen, und die Musik als Beruf zu ergreifen. Bis zu meinem 21. Lebensjahre hatte ich gar keinen theoretischen Unterricht erhalten, mich aber als Autodidakt soweit gebracht, dass ich, nachdem ich ein Jahr unter Alexander von Zemlinsky's Leitung komponiert hatte, ein Streichquartett öffentlich zur Aufführung bringen konnte.
Bei der Komposition von Richard Dehmels Gedicht „Verklärte Nacht“ leitete mich die Absicht, in der Kammermusik jene neuen Formen zu versuchen, welche in der Orchestermusik durch Zugrundelegen einer poetischen Idee entstanden sind. Zeigt das Orchester die gleichsam episch- dramatischen Gebilde tondichterischen Schaffens, so kann die Kammermusik die lyrischen oder lyrisch-epischen darstellen. Stehen nun auch die Mittel der letzteren hinsichtlich der tonmalerischen Ausdrucksfähigkeit hinter denen des Orchesters zurück – ein Mangel, der nur beim Vergleich bemerkbar ist, der aber doch auch, wenn er wirklich einer ist, mit Rücksicht auf das Kolorit zu Gunsten der Sinfonie gegen das Streichquartett überhaupt spräche –, so bleibt doch als Gemeinsames das formenbildende Prinzip. Dieses ist ein uraltes und leitet seinen Ursprung von jenen alten Meistern her, die in den – heute endlos scheinenden – Textwiederholungen, solange über einen poetischen Gedanken musikalisch phantasierten, bis sie ihm alle möglichen Stimmungen und Bedeutungen abgewonnen – fast möchte ich sagen: bis sie ihn analysiert hatten.

Ankündigung der Aufführung auf dem Deutschen Tonkünstlerfest in Berlin am 30. Oktober 1902
(Deutsche Tonkünstler-Zeitung, 21. Oktober 1902)

Anmerkungen (1950)

Arnold Schönberg: Programm-Anmerkungen (Analyse)
Am Ende des neunzehnten Jahrhunderts waren Detlev von Liliencron, Hugo von Hofmannsthal und Richard Dehmel die vordersten Vertreter des »Zeitgeistes« in der Lyrik. In der Musik hingegen folgten nach dem Tod von Brahms viele junge Komponisten dem Vorbild von Richard Strauss und komponierten Programmusik. Dies erklärt den Ursprung der Verklärten Nacht: es ist Programmusik, die das Gedicht von Richard Dehmel schildert und zum Ausdruck bringt.

Meine Komposition unterschied sich vielleicht etwas von anderen illustrativen Kompositionen erstens, indem sie nicht für Orchester, sondern für Kammerbesetzung ist, und zweitens, weil sie nicht irgendeine Handlung oder ein Drama schildert, sondern sich darauf beschränkt, die Natur zu zeichnen und menschliche Gefühle auszudrücken. Es scheint, dass meine Komposition aufgrund dieser Haltung Qualität gewonnen hat, die auch befriedigen, wenn man nicht weiß, was sie schildert, oder, mit anderen Worten, sie bietet die Möglichkeit, als reine »reine« Musik geschätzt zu werden. Daher vermag sie einen vielleicht das Gedicht vergessen lassen, das mancher heutzutage als ziemlich abstoßend bezeichnen würde.

Dessen ungeachtet verdient vieles von dem Gedicht Anerkennung wegen seiner in höchstem Maße poetischen Darstellung der Gefühlsregungen, die durch die Schönheit der Natur hervorgehoben werden, und wegen seiner bemerkenswerten moralischen Haltung bei der Behandlung eines erschütternd schwierigen Problems.

Bei einem Spaziergang im Park

in einer klaren, kalten Mondnacht

bekennt die Frau dem Mann in einem dramatischen Ausbruch eine Tragödie

Sie hatte einen Mann geheiratet, den sie nicht liebte. Sie war unglücklich und einsam in dieser Ehe,

zwang sich aber zur Treue,

und nachdem sie schließlich dem mütterlichen Instinkt gefolgt ist, trägt sie jetzt ein Kind von einem Mann, den sie nicht liebt. Sie hat ihre Pflichterfüllung gegenüber den Forderungen der Natur sogar für lobenswert gehalten.

Ein höhepunktartiger Aufstieg, der das Motiv verarbeitet, drückt aus, wie sie sich selber ihrer großen Sünde bezichtigt.

Voller Verzweiflung geht sie nun neben dem Mann her, den sie liebt, und fürchtet, dass sein Urteilsspruch sie vernichten wird.

Aber »die Stimme eines Mannes spricht«, eines Mannes, dessen Großmut so erhaben ist wie seine Liebe.

Die vorausgegangene erste Hälfte der Komposition endet auf es-Moll (a), von dem als Überleitung nur (b) liegenbleibt, um mit dem äußersten Gegensatz D-Dur zu verbinden. (c)
Harmonien (a), die mit gedämpften Läufen ausgezeichnet sind (b), drücken die Schönheit des Mondlichts aus

und über einer flimmernden Begleitung

wird ein Nebenthema geführt,

das bald in ein Duett zwischen Violine und Cello übergeht.

Dieser Abschnitt gibt die Stimmung des Mannes wieder, dessen Liebe im Einklang mit dem Schimmer und dem Glanz der Natur fähig ist, die tragische Situation zu leugnen: »Das Kind, das Du empfangen hast, sei Deiner Seele keine Last.«
Nachdem das Duett einen Höhepunkt erreicht hat, wird es durch eine Überleitung mit einem neuen Thema verbunden.

Seiner Melodie, die die »Wärme« ausdrückt, die »flimmert von Dir in mich, von mir in Dich«, die Wärme der Liebe, folgen Wiederholungen und Verarbeitungen früherer Themen. Schließlich führt es zu einem weiteren neuen Thema, das dem würdigen Entschluss des Mannes entspricht: die Wärme »wir das fremde Kind verklären, Du wirst es mir, von mir gebären«.

Ein Aufstieg führt zum Höhepunkt, zu einer Wiederholung des Themas des Mannes zu Beginn des zweiten Teiles.
Ein langer Coda-Anschnitt beschließt das Werk. Sein Material besteht aus Themen der vorausgehenden Teile. Alle sind von neuem verändert, wie im die Wunder der Natur zu verherrlichen, die diese Nacht der Tragödie in eine verklärte Nacht verwandelt haben.

Man darf nicht vergessen, dass dieses Werk bei seiner Erstaufführung in Wien ausgezischt wurde und Unruhe und Faustkämpfe verursachte. Aber es hatte sehr bald großen Erfolg.

Arnold Schönberg: Stil und Gedanken. Aufsätze zur Musik. Herausgegeben von Ivan Vojtech. Frankfurt am Main 1976. p. 453-457. (Gesammelte Schriften. 1)