»Ob rechts, ob links, vorwärts oder rückwärts«


»Ohne zu fragen?«    


»Gleichviel! Weiter!«    


»Du bist immerhin zufrieden mit dir«


»Dies Entweder und dies Oder«


»Gegen seinen und euren Willen«


»Ich sollte nicht näher, denn ich verliere dabei«


»Herr, verzeih mir meine Überhebung!«


»Herr, mein ganzes Leben lang«


»Nahst du wieder dem Licht?«


Großes symphonisches Zwischenspiel

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AUFFÜHRUNGSDAUER: ca. 45 Min.

VERLAG:
Universal Edition
Belmont Music Publishers (USA, Kanada, Mexico)

»Es ist die Möglichkeit, daß ich einsehen muß, nicht mehr in der Lage zu sein, die ›Jakobsleiter‹ zu Ende zu komponieren.« Als Arnold Schönberg wenige Wochen vor seinem Tod (Freitag, 13. Juli 1951) in einem Brief an den ehemaligen Schüler Karl Rankl resignativ von der Aufgabe seiner Kompositionspläne zur »Jakobsleiter« spricht, setzt er den Schlusspunkt hinter einen schaffenschronologisch komplexen Werktorso, dessen Ursprung zu diesem Zeitpunkt bereits vier Jahrzehnte zurückliegt.
Die Genesis der »Jakobsleiter« als zentraler Komposition der Schönbergschen »Weltanschauungsmusik« zwischen 1908 (II. Streichquartett op. 10 mit den George-Vertonungen »Litanei« und »Entrückung«) und 1923 (Serenade op. 24 mit dem Sonett aus den »Canzoniere« von Petrarca) als Ästhetik der Grundfragen menschlicher Existenz und der Kunstreligion lässt sich anhand des autographen Werkstattmaterials aus dem Nachlass des Komponisten sowie einer umfangreichen Korrespondenz innerhalb des Wiener Schüler- und Freundeskreises um Arnold Schönberg weitgehend lückenlos präzisieren: Dem Oratorium vorausgegangen waren Pläne zu einer großangelegten Symphonie für Soli, Chor und Orchester mit der »Jakobsleiter« als letztem Satz – eine konzeptionelle Anknüpfung an Gustav Mahlers 8. Symphonie mit den Implikationen einer von den Fesseln der Tonalität emanzipierten Klangrede. Die Symphonie wiederum ist dem Plan der Vertonung von Honoré de Balzacs Roman »Seraphita« (bzw. des letzten Kapitels »Seraphitas Himmelsfahrt«) rückverbunden, mit dessen Nachdichtung Schönberg ursprünglich die Wiener Ärztin Marie Pappenheim, Librettistin seines Monodrams »Erwartung« op. 17 (1909), beauftragt hatte (»ich will doch lieber Seraphita komponieren, die die Pappenheim für mich jetzt bearbeitet«, Brief an Alexander Zemlinsky vom 21. November 1913). Eine im Jahr zuvor initiierte Zusammenarbeit mit Richard Dehmel an einem Oratorium ließ sich ebensowenig realisieren. Schönberg schrieb den Text schließlich selbst.
Das erste erhaltene Dokument mit Bezug auf den »Jakobsleiter«-Stoff ist ein Brief Schönbergs an seinen Schüler Alban Berg vom Frühjahr 1911, in dem er ihm vom Plan zur Vertonung des Fragments »Jakob ringt« aus August Strindbergs »Legenden« berichtet. In Berlin verdichtete sich in Schönberg allmählich die ursprüngliche Oratoriumsidee zum Konzept eines monumentalen Bühnenwerks. Parallel dazu beschäftigte sich Schönberg mit dem »Drama mit Musik« »Die glückliche Hand« op. 18, welches den Versuch einer Umsetzung psychischer Erlebnisse in ein visuell-szenisch-musikalisches Gesamtkunstwerk darstellt.Der im Kontext einer persönlichen Begegnung von Arnold Schönberg und Richard Dehmel in Hamburg im Herbst 1912 begonnene Briefwechsel mit dem Dichter legt ein beredtes Zeugnis über die Beschäftigung Schönbergs mit dem Oratorium und seinem Wunsch ab, Dehmel als Librettisten zu gewinnen. Richard Dehmel sah sich indes außerstande, dem Wunsch Schönbergs nach einem neuen Libretto nachzukommen, bot alternativ jedoch einen früher entstandenen Text mit dem Titel »Oratorium natale« (»Schöpfungsfeier«) an. Bedingt durch die Orchestrierung der »Glücklichen Hand« sowie die Komposition der Vier Orchesterlieder op. 22 (darunter »Seraphita« nach Ernest Dowson/Stefan George) musste der Oratoriumsentwurf bis Ende 1914 beiseite gelegt werden, ehe sich Schönberg dem Projekt mit einem neuen Formkonzept wieder zuwenden konnte: einer (Programm-)Symphonie, die aus den Sätzen »Lebenswende«, »Lebenslust«, »Schöpfungsfeier« (Richard Dehmel), einem Zwischenspiel und einem Psalm im ersten Teil sowie den Abschnitten »Totentanz der Prinzipien« und »Glauben des Desillusionierten« (mit Bibelzitaten) im zweiten Teil bestehen sollte. In einem ungedruckten Artikel aus Schönbergs Nachlass findet sich zudem der Hinweis: »I had made plans for a great symphony of [which] the Jakobsleiter should be the last movement. I have sketched many themes, among them one for a scherzo which consisted of all the twelve tones.«
Unmittelbar nach Abschluss der Dichtung »Totentanz der Prinzipien« am 15. Januar 1915 begann Schönberg mit dem Text zur »Jakobsleiter«, der im frühen, mit »18/1. 1915« datierten werkgenetischen Stadium die Thematisierung der »Vereinigung nüchtern, skeptischen Realitätsbewußtseins mit dem Glauben« vorsah. Die am 4. Mai 1915 begonnenen musikalischen Skizzen deuten schließlich darauf hin, dass Schönberg bereits zu diesem Zeitpunkt an eine Trennung des Stoffes in eine instrumentale Symphonie und ein Vokalwerk auf den »Jakobsleiter«-Text gedacht hatte. Im Herbst 1915 kehrte Schönberg nach Wien zurück und rückte im Dezember zum k.u.k. Regiment Hoch- und Deutschmeister Nr. 4 ein. Nach der Enthebung vom Militärdienst und der erneuten Beschäftigung mit den Orchesterliedern op. 22 wandte er sich im Frühjahr 1917 wieder dem Text zur »Jakobsleiter« zu, dessen Reinschrift mit 26. Mai 1917 datiert ist. Anton Webern schrieb seinem Lehrer schließlich: »Wie freue ich mich auf die ›Jakobsleiter.‹ Wie schnell hast du die Dichtung vollendet. [...] Ich weiß, daß was ich in ihr zu verstehen im Stande sein werde mir alles auf der Welt in neuem Lichte zeigen wird.« (Brief vom 13. Juni)
Nach weiteren musikalischen Skizzen Anfang Juni 1917 nahm Schönberg Korrekturen an der Dichtung vor und setzte am 19. Juni mit dem Particell der nunmehr vom Symphonie-Fragment abgespaltenen Komposition fort. Zu diesem Zeitpunkt dachte er bereits über eine szenische Realisation nach, für die er Adolf Loos als Bühnenbildner gewinnen wollte. Bis zum September 1917 (neben der Datierung weiterer Skizzen mit 19. September findet sich die Eintragung »Einrücken zum Militär« über Gabriels Text »So ist dein Ich gelöscht«) entsteht ein großer Teil des Fragments (Takte 1 – 601) als Erstniederschrift in Particellform: »[Erwin] Stein schrieb mir, daß du sehr viel arbeitest. Daß die Jakobsleiter bis zum ›Auserwählten‹ ganz fertig ist. Es kommt mir als ein Wunder vor. Bei diesen Sorgen bist du das im Stande!« (Webern an Schönberg, 12. September 1917) Im Herbst veröffentlichte die Universal-Edition den Text der »Jakobsleiter« in zwei Ausgaben (»gew[öhnliche]« und »Büttenausgabe«). Anton Webern berichtete am 5. Oktober: »Nach dem Furchtbaren der letzten Wochen sind mir diese Worte eine Erlösung. [...] Durch dein Werk ist sonnenklar geworden, was das Menschenschicksal ist.« Auch Schönbergs Schwager Alexander Zemlinsky äußerte sich hymnisch über das neue Werk seines ehemaligen Schülers: »Die 2 großen Reden Gabriels im 1. Lesen als das Schönste! Verblüffend für mich auch: die formale Gestaltung: unerhörte Knappheit des Ausdruck[s], dann wieder die Schönheit der Sprache.« (Oktober 1917) Musikalische Skizzen von Anfang Dezember 1917 enthalten den handschriftlichen Randbemerk von Schönbergs erneuter Enthebung vom Militärdienst, die aufgrund seiner schlechten gesundheitlichen Verfassung erfolgt war. Gegenüber Zemlinsky äußerte er sich am 20. Dezember über die Schwierigkeiten, an der Komposition wieder anknüpfen zu können: »Eine solche Unterbrechung ist so unnatürlich, daß ich mich schwer wieder ins Geleise finde.« Weitere Entwürfe entstanden im Januar 1918, ehe die »Jakobsleiter« aufgrund pädagogischer Verpflichtungen an den »Schwarzwald'schen Schulanstalten« für einen längeren Zeitraum beiseite gelegt werden musste.
Nach einer Lesung des »Jakobsleiter«-Textes beim Verein durch Wilhelm Klitsch griff Schönberg Ende Juni 1921 mit Skizzen zum zweiten Teil den Entwurf wieder auf. Eine intensivere Beschäftigung fand im Frühjahr 1922 statt, als er an Schlusschor, Chor- und Orchesterverteilung arbeitete und mit der Ausbildung neuer Formprinzipien, welche schließlich die »Methode der Komposition mit zwölf nur aufeinander bezogenen Tönen« markierten, etwa zeitgleich eine neue Epoche der Musikgeschichte des 20. Jahrhunderts einleitete. Inwieweit die vorläufige Zäsur in der Beschäftigung mit dem »Jakobsleiter«-Oratorium (weitere Skizzen datieren mit April sowie Juli 1922) mit dem im Jahr zuvor stattgefundenen »Mattsee-Ereignis« (einem antisemitischen Pogrom in der Salzburger Sommerfrische, das die Vertreibung jüdischer Gäste – darunter Schönberg – zur Folge hatte) in Verbindung zu bringen ist, muss Spekulation bleiben. Fest steht, dass die durch zeit- und gesellschaftspolitische Zusammenhänge initiierte, forcierte Thematisierung jüdischer Identität die Periode der theosophischen und esoterischen Reflexion auf ästhetischer Ebene beendete und erst nach Schönbergs Weggang aus Österreich im Opus magnum »Moses und Aron« sowie dem zionistischen Drama »Der biblische Weg« eine neue künstlerische Sublimierung erfuhr. Schönberg bekannte indes, den Stoff der »Jakobsleiter« als Gleichnis für das Ringen des modernen Menschen um den Glauben, als Sinnbild einer aktuellen Problematik aufzufassen: »[V]ielleicht war das Ärgste doch die Umstürzung all dessen, woran man früher geglaubt hat. [...] Was ich meine, würde Ihnen am besten meine Dichtung ›Jakobsleiter‹ (ein Oratorium) sagen: ich meine – wenn auch ohne alle organisatorischen Fesseln – die Religion. Mir war sie in diesen Jahren meine einzige Stütze – es sei das hier zum erstenmal gesagt.« (Brief an Wassily Kandinsky vom 20. Juli 1922) Als Alexander Zemlinsky Schönberg zu einer Lesung des Librettos beim »Verein für musikalische Privataufführungen« nach Prag einlud, lehnte dieser am 12. Februar 1923 mit der Begründung ab, keine Unterbrechung seiner Arbeit mehr riskieren zu wollen, da es für ihn »(siehe Jakobsleiter) verhängnisvoll sein kann, den Faden zu verlieren«.
Einen vorletzten Versuch unternahm der seit 1933 im amerikanischen Exil lebende Schönberg im Januar 1945, als er bei der Guggenheim Foundation um ein Stipendium zur Fertigstellung von »Jakobsleiter«, »Moses und Aron« und Lehrbüchern ansuchte und die notwendige Arbeitszeit zur Vollendung des Oratoriums mit eineinhalb bis zwei Jahren projektierte. Der Antrag wurde jedoch abgelehnt. Als schließlich Hermann Scherchen, der neben seiner Tätigkeit als Dirigent auch den von ihm gegründeten Ars Viva-Verlag in Zürich leitete, mit dem Wunsch nach neuen Kompositionen an Schönberg herantrat, plante dieser zumindest einen Teil aus dem Particell der »Jakobsleiter« in Partiturform zu übertragen, was aufgrund eines fortgeschrittenen Augenleidens nur mehr mühsam zu bewerkstelligen war. Erst nach Schönbergs Tod wurde im Auftrag seiner Witwe Gertrud durch seinen ehemaligen Schüler Winfried Zillig aus den autographen Quellen eine Partitur hergestellt. Die konzertante Uraufführung des »Jakobsleiter«-Fragments fand am 16. Juni 1961 im Wiener Konzerthaus unter der Leitung von Rafael Kubelik statt, die szenische Erstaufführung am 14. August 1968 in Santa Fe, New Mexico.

Therese Muxeneder
© Wiener Staatsoper