Die Gurrelieder – Die letzten Kompositionen! Wie reimen Sie die zusammen? Und wenn Schönberg wirklich die letzten Jahre seines Schaffens – und daran ist nicht zu zweifeln – vertritt, wie stellt er sich dann zu den Gurreliedern? Muß er die nicht verleugnen? Unterdessen erfahren wir das Gegenteil; wir haben gesehen, daß er sie selbst einstudiert und dirigiert hat. Erklären Sie uns diesen Widerspruch!
Mein verehrtes Publikum, du hast Unrecht. Kein Mensch verleugnet das, was er geschaffen hat. Weder der Handwerker, noch der Künstler. Weder der Schuster, noch der Musiker. Die Unterschiede in der Form, die das Publikum wahrnimmt, sind dem schaffenden Menschen verborgen. Die Schuhe, die der Meister vor zehn Jahren gemacht, waren gute Schuhe. Warum sollte er sich ihrer schämen? Warum sollte er sie verleugnen? »Schauen Sie sich den Dreck an, das habe ich vor zehn Jahren gemacht« kann nur ein Architekt gesprochen haben. Aber Architekten zähle ich bekanntlich nicht zu den Menschen.
Der Handwerker schafft die Form unbewußt. Die Form wird durch die Tradition übernommen und die Veränderungen, die während des Lebens des Handwerkers sich vollziehen, sind nicht von seinem Willen abhängig. Seine Auftraggeber, die sich verändern – sie werden älter – geben ihm die Anregungen und so vollzieht sich ein Wechsel, der weder dem Konsumenten, noch dem Produzenten bewußt wird. An seinem Lebensabend macht der Meister andere Schuhe als in seiner Jugend. Wie auch seine Handschrift im Laufe von fünfzig Jahren eine andere geworden ist. Wie auch alle Handschrift im gleichen Maße sich ändert, alle Schreiber an dieser Veränderung im gleichen Maße teilhaben, so daß man mit Leichtigkeit an der Form der Buchstaben auf das Jahrhundert schließen kann.
Anders der Künstler. Der hat keinen Auftraggeber. Derjenige, der ihm den Auftrag erteilt, ist er selbst.
Sein erstes Werk wird immer das Produkt seines Milieus und seines Willens sein. Aber in diesem ersten Werk ist für den, der Ohren hat zu hören und Augen hat zu sehen, das ganze Lebenswerk des Künstlers enthalten.
Die Krokodile sehen einen menschlichen Embryo und sagen: »es ist ein Krokodil«. Die Menschen sehen denselben Embryo und sagen: »es ist ein Mensch«.
Von den Gurreliedern sagen die Krokodile, es wäre Richard Wagner. Aber die Menschen fühlen nach den ersten drei Takten das unerhört Neue und sagen: »das ist Arnold Schönberg!«
Nie war es anders. Diesem Mißverständnis war das Leben eines jeden Künstlers unterworfen. Sein Eigenes blieb den Zeitgenossen unbekannt. Wohl fühlte er das Mysterium als etwas Fremdes und er hilft sich im Anfang mit Analogien. Kommt ihm aber das Neue, das Ich des Künstlers zum vollen Bewußtsein, dann versucht er es, seine eigene Inferiorität durch Lachen und Toben zu retten. Wir kennen das Werk Rembrandts aus seiner frühesten Knabenzeit. Er wurde ein berühmter Maler, bis er die »Nachtwache« schuf. Man brüllte und tobte: »Warum schafft er jetzt anders?« . . . »Das ist nicht der berühmte Rembrandt, das ist eine schauderhafte Klexerei!« Und der Meister erstaunte und wußte nichts von dem, was das Publikum meinte. Er sah nicht, was das Publikum sah. Er hat sich gar nicht geändert, nichts neues vollbracht. Nach dreihundert Jahren gibt das Publikum dem Meister recht.
Es war wirklich kein neuer Rembrandt, nur ein besserer, größerer, gewaltiger. Und das Publikum, das das Werk Rembrandts durchblättert, kann den Riß, der von den Zeitgenossen im Schaffen des Meisters so scharf festgestellt wurde, überhaupt nicht bemerken. Schon in den Knabenzeichnungen ist der ganze Rembrandt enthalten und wir fragen uns erstaunt, wie es möglich war, daß das Revolutionäre dieser Bilder so widerspruchslos hingenommen wurde. Aber man sah nur das Krokodil.
Soll ich andere Beispiele aufführen? Den Weg Beethovens? Hat man vergessen, daß die neunte Symphonie mit der Taubheit des Meisters entschuldigt wurde? Daß dieses Werk vielleicht für immer uns verloren gegangen wäre, wenn nicht die Franzosen sich für den verrückt gewordenen deutschen Meister eingesetzt hätten!
Es werden vielleicht Jahrhunderte vergehen müssen, bis die Menschen sich darüber wundern werden, womit sich die Zeitgenossen Arnold Schönbergs den Kopf zerbrochen haben.

Arnold Schönberg zum 50. Geburtstage, 13. September 1924. Sonderheft der Musikblätter des Anbruch, 6. Jg., August-September-Heft 1924, S. 271–272